Seit 35 Jahren existiert die Werkstatt Kassel. Damit gehört das soziokulturelle Zentrum zu den ältesten Einrichtungen nicht nur in Hessen, sondern auch bundesweit. Ort des Geschehens ist das klassizistische Tempelchen direkt gegenüber der Kasseler Stadthalle. Im Gespräch mit der LAKS Hessen äußern sich Carmen Weidemann und Roland Goldack zu großen Namen und kleinen Schildchen, zu soziokulturellen Aktivitäten und Impulsgebungen und welche Wurzeln sich Soziokultur bewahren sollte.
Carmen und Roland, die Werkstatt Kassel ist eines der ältesten soziokulturellen Zentren in Hessen und auch in Deutschland. Wie lautet eure Gründungsgeschichte?
Roland: Unsere Initiatoren waren ja u.a. Rudi Dutschke, Joseph Beuys, Robert Jungk - bekannter Anti-AKW und Anti-Valium-Aktivist - und auch die documenta 6 mit der sexy Honigpumpe. In die kalte fertige Gesellschaft soll süßer, warmer Honig gepumpt werden. Aus diesen Gedanken der 68er entwickelten hier in Kassel Rhea Tönjes und Ulrich Kriwet die Werkstatt. Also eine Zukunftswerkstatt, die eine bessere Zukunft mitgestalten will.
Carmen: Für mich ist die Verortung des erweiterten Kunstbegriffs zur Werkstatt-Gründung ganz wichtig. Da gehört auch die FIU, die Free International University dazu. Das geht bis heute zur University of the Trees und der Transition Town Bewegung.
Wie hat sich eure Arbeit seitdem geändert? Was sind eure Schwerpunkte? Was ist geblieben, was neu dazugekommen?
Carmen: Geblieben ist der Bildungsanspruch, geblieben ist die Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen, geblieben ist die Literatur und der Versuch, Kunst in den soziokulturellen Rahmen zu stellen, geblieben ist die Suche nach neuen, alternativen Impulsen, Grenzüberschreitungen...
Roland: Na ja, Grenzüberschreitungen, Alternativen - da ist vieles schwieriger geworden. Wir haben es schwerer, für einen innovativen Diskurs zu sensibilisieren. Mittlerweile wollen ja viele schon in der Kindererziehung und der Sozialarbeit klare Grenzen ziehen. Der Vertrottelung der Gesellschaft bricht Merkel Bahn, die die Alternativlosigkeit ihrer Politik fast schon zu Recht feststellt. Hatten Schröder und Fischer Alternativen? Also, es ist schwieriger geworden im Neoliberalismus, obwohl das System augenfällig ungerechter, unfreier und schrottiger ist als zuvor. Trotzdem stimmt, was Carmen meint, und natürlich bleiben wir ein Tempel der Freigeistigkeit. Das steht über unserer Eingangstür auf dem kleinen Schildchen, und das ist auch der Grund, warum uns viele Leute mögen.Dazu gekommen ist, dass wir unser menschrechtliches Engagement auch im Bereich der rechtlichen Betreuung artikulieren, und das ist kein leichtes Brot.
Auch in eurer jüngeren Geschichte tauchen weitere große Namen auf wie Äi Weiwei. Wie sind die Zusammenhänge?
Roland: Große Namen sind natürlich auch ein verpflichtendes Erbe. Unser Einsatz für Ai Weiwei, aber auch für Faradsch Sarkui im Iran sowie für unbekanntere Dissidenten sind die Weiterführung dessen, was Bloch seinerzeit den "aufrechten Gang" nannte. Dazu gehört auch unser Projekt "Wie Deutsche leben", ein interkulturelles Literaturprojekt. Wir wollen also nicht bequem sein. In unserer Hütte haben sich viele Initiativen gegründet. In diesem Sinne ist die Werkstatt "Mutter" der Ortsgruppe der Kasseler Grünen und von Amnesty International, der Essbaren Stadt, der Kritischen Öffentlichkeit für Afrika, des Mütterzentrums, der Kindergruppe Rappelkiste, des Kamikaze Theaters, des Nordhessischen Autorenpreises, der Genossenschaft Kassel im Wandel, des Vereins "Ganz im Leben", der Projektgruppe Huttenplatz, der Internationalen Kasseler Lyriktage und anderer, die mir spontan nicht gleich einfallen, die aber trotzdem wichtig sind.
Ihr arbeitet sehr stark themenorientiert, unter anderem mit einem wechselnden Jahresmotto. Wie entstehend die Ideen, wie und mit wem setzt ihr die Ideen um?
Carmen: Die Ideen entstehen aus unserem werkstattinternen Diskurs in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität. Wichtig ist für uns dieses Spannungsverhältnis, aus dem die Praxis unsere Ideen hervorgeht. Es ist unsere Lebendigkeit.
Vor einigen Jahren hatten wir an dieser Stelle ein Interview mit der damals 11jährigen Rhea Rosa Flach, die ihr erst Kunstausstellung bei euch durchführen konnte (Link zu Interview setzen). Forscht die Jugend noch immer bei euch?
Roland: Ja, aktuell engagiert sich die Jugend bei uns in der Digeridoo-Gruppe, bei der Huttenplatz-Projekt-Gruppe und bei Kassel im Wandel. Weiterhin fördern wir gezielt Lesungen von Jugendlichen und Kindern. Allerdings werden wir selber in diesem Bereich nur sehr unbefriedigend gefördert, sprich: Wir brauchen dringend mehr Fördermittel.
Aus Anlass des 35jährigen Jubiläums habt ihr 3,5 Wünsche frei. Die lauten?
Carmen: Deutlich mehr Fördermittel für unsere Kulturarbeit. Eine oder zumindest eine halbe Stelle mehr.
Roland: Ein weniger repressives soziales Klima, damit Utopien und Kreativität mehr Chancen haben und weniger Normierungsdruck, z.B. ein bedingungsloses Grundeinkommen - das wäre nicht nur für uns eine große Verbesserung der Lebensqualität.
Gibt es an dieser Stelle noch etwas, was ihr loswerden möchtet?
Carmen und Roland: Als ein mittlerweile besonders nachhaltiges soziokulturelles Zentrum grüßen wir alle anderen Zentren und bitten, Euch an Euren rebellischen Wurzel festzuhalten. Gerade wir Zentren untereinander sollten hier einen Diskurs führen, denn schließlich ist der innovative Impuls unser Auftrag. Oder?
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